Wind dreht nach Ost. Nebel kommt auf. Der Himmel sieht plötzlich so merkwürdig aus! Was uns bevorsteht, das zu sagen ist schwer. Doch ich fühle, es kommt was, es kommt etwas her!
P. L. Travers war eine ungewöhnliche und kauzige Frau. Eigenwillig, manchmal exzentrisch und trotzdem verschlossen. Sie lebte alleinstehend in London. Selbst kinderlos hatte sie in den 40er Jahren ein Zwillingskind adoptiert – was in der damaligen Zeit ein ziemlich progressiver Schritt war. Ihre wahrscheinlich bisexuellen Beziehungen verheimlichte sie, genauso wie ihre australische Herkunft oder einige der erotischen Kurzgeschichten, die sie verfasst hatte. Sie schaffte sich einen britischen Akzent an und gab ihren Familiennamen auf. Nichts und niemand sollte jemals ihre Vergangenheit erfahren.
Bekannt geworden ist sie damals durch eine Kinderbuch-Figur, welche die Welt im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge erobern sollte: Mary Poppins. Heute kennen P.L. Travers nur noch sehr wenige. Mary Poppins hingegen ist mittlerweile mit einer ganz anderen exzentrischen Person verbunden: Walt Disney. Er hatte Mary Poppins in den 60er Jahren verfilmt – ein gewaltiger Kassenschlager. Fünf Oscars. Und ein Trickeffekte-Durchbruch.
Das Verhältnis zwischen Walt Disney und P.L. Travers war kein gutes. Der Walt-Disney-Company wurde bis zum Ende vorgeworfen, Mary Poppins aus den Händen der Autorin gerissen und gegen ihren Willen verändert zu haben. Nun hat Disney genau diese umstrittene Vergangenheit in einem biographischen Film aufgearbeitet – und die Vergangenheit von P.L. Travers gleich mit.
Dabei bleibt „Saving Mr. Banks“ eigentlich angenehm kammerspielartig. Die Szenen finden praktisch nur in den Walt Disney Studios, im Disneyland und als Rückblenden in Australien stand. Dabei gibt es auch nur ein paar Darsteller: die Sherman Brothers, der Drehbuchautor, der Chauffeur (Paul Giamatti, wie immer genial!) sowie die australische Familie von P.L. Travers. Und natürlich die hervorragenden Hauptdarsteller Emma Thompson (P.L. Travers) und Tom Hanks (Walt Disney). Mehr braucht es auch nicht, denn Saving Mr. Banks ist ein Charakterstück. An Hand von archivierten, wieder entdeckten Tonaufnahmen zwischen Walt Disney und P.L. Travers wurde die Geschichte der Rechte-Verhandlung nachkonstruiert.
Tatsächlich geht es vordergründig zwei Stunden lang um nichts anderes: Walt Disney möchte gerne die Rechte an Mary Poppins kaufen, P.L. Travers möchte sie nicht verkaufen. Doch unter der Oberfläche brodelt ein Thema, das jedem Kreativen nur zu bekannt ist. Es geht um die Identität mit der eigenen Kunst, um die Verlustangst der eigenen Schöpfung, um die Verantwortung und Empathie bei der Übernahme von fremden Stoff, um das Loslassen – aber viel mehr noch um das Leid, welche jede Kunst erst erschaffen hat.
Mit Disney und Travers treffen zwei Extrema aufeinander. Auf der einen Seite Walt – zweifelsohne ein Geschichtenerzähler. Einer, der seine Geschichten mit anderen teilt und daraus ein wirtschaftliches Imperium aufgebaut hat – der Inbegriff des „altruistischen“, erfolgreichen Märchenonkels. Eine Person, die Kinder am liebsten täglich knudeln möchten, die aber innerlich ohne Zweifel ein harter Geschäftsmann blieb. Ein Geschäftsmann, der seiner Tochter die Verfilmung von Mary Poppins versprochen hatte und keine Niederlage akzeptiert.
Auf der anderen Seite Travers. Eine steife, resolute Person, die keine Kritik oder Änderung an ihrem kreativen Schaffen duldet. Eine Person, die nur durch Glück zu Reichtum kam und mit Geld nicht allzu gut umgehen kann. Eine Person, die im Hintergrund bleibt, die Gesellschaft scheut, sich hinter Fassaden und äußerer Härte verstecken muss, aber innerlich durch Ereignisse tief veletzt wurde und das nur noch durch ihre Kunst ausdrücken kann.
P.L. Travers (1924)
P.L. Travers erschaffte Mary Poppins nicht aus kommerzieller oder altruistischer Sicht. Sie erschaffte ihre eigene kleine Parallelwelt aus Schmerz, als Form der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit. Und sie hing daran – es war ihr Universum, ihr Rückzugspunkt. Und sie hat bis zum Ende nicht akzeptiert, dass Rezipienten aus ihrer Figur und ihrem Universum etwas anderes machen würden als das, was es für sie war. Bis zum Schluß hat sie von dieser Einstellung nicht losgelassen. Wir werden am Ende des Films erfahren: Die Kaltherzigkeit ist der einzige Selbstschutz, der einer Träumerin geblieben ist, die bis zum Schluss ein Kind in sich verstecken musste, das nie richtig erwachsen wurde.
Walt Disney wiederum hat zunächst nicht mal im Ansatz begriffen, warum P.L. Travers die Produktion des Filmstreifens durchgehend attackierte. Dick van Dyke schloß sie als Hauptdarsteller aus. Animationssequenzen waren verboten. Die Musik hasste sie. In einer zwei-wöchigen Vorbereitungsphase, die Saving Mr. Banks nun festhält, sieht man den Wahnsinn, als damals mehrere unfassbar kreative Personen aufeinander prallten, absolute Magie schafften, und sich dabei regelrecht zerfleischten. P.L. Travers hatte bis zum Ende den Rechtevertrag nicht unterschreiben.
Erst sehr spät in Saving Mr. Banks begreift Disney, was wirklich hinter Mary Poppins steckt. Er entschlüsselt die Vergangenheit von P.L. Travers und setzt zum letzten Versuch an, den Film doch noch in die Tat umzusetzen.
Walt Disney (1938)
### SPOILER-ALERT ANFANG ###
Ein Höhepunkt von Saving Mr. Banks ist dabei ohne Zweifel das Auftreten der „echten“ Mary Poppins: Mittlerweile sind sich Historiker weitesgehend einig, dass es sie wirklich gab – nämlich die Tante von P.L. Travers. Ausgestattet mit einem Papageien-Regenschirm hatte sie die in Armut und Chaos lebende Familie nach dem Tod des Vaters aus dem Schlimmsten gerettet. In Saving Mr. Banks erkennt damit auch Disney erstmalig an, dass Mary Poppins eigentlich nie die Kinderbuch-Figur war, als die sie der Konzern später verkauft hatte.
Sie war wahrscheinlich viel mehr der stille Wunsch von Travers nach der Rückkehr ihrer Tante mit dem Regenschirm – und die (unmögliche) Rettung des von ihr geliebten Vaters, dessen Vornamen sie später angenommen und dessen Verlust sie nie verkraftet hatte – eine Sehnsucht, die von ihr niemals konkret ausgesprochen wurde. Das zumindest proklamiert der Film. Zurück bleibt am Ende von Saving Mr. Banks eine gebrochene P.L. Travers. Der Blosstellung geschlagen unterschreibt sie den Rechtevertrag und stimmt damit der Produktion eines ihr verhassten Filmes doch noch zu. Ein Ende mit fahlem Beigeschmack.
### SPOILER-ALERT ENDE ###
Immer wieder wurde der Walt-Disney-Company vorgeworfen, dass man die Rechtsstreitigkeiten zwischen Künstlerin und eigenem Studio nicht unvoreingenommen verfilmen könne. Und mit Sicherheit stimmt das. Saving Mr. Banks bleibt im Kern ein Disney-Film, mit all den kitschigen Elementen, die man damit assoziiert – außer dem Happy End. Und auch wenn einige Passagen der Travers-Biographie ausgelassen oder verkürzt und einige der kaltherzigeren Business-Aktionen von Walt Disney nur am Rande tangiert werden (er hatte P.L. Travers z.B. nicht zur Premiere eingeladen), ist es doch eine feinfühlige Verbeugung vor der Schöpferin und ihrem Universum.
Sicher, P.L. Travers hätte diesen Film verdammt und sich vermutlich mit Händen und Füßen gegen die Interpretation gewährt. Gott sei Dank lässt sich der Film am Ende nicht darüber aus, ob sich ihre Wandlung von der kaltherzigen, kauzigen Dame zur verzweifelten, namenlosen, weinenden Frau am Ende der eigenen Gebrochenheit, dem tief sitzendem, unverarbeitetem Schmerz oder tatsächlich dem Hass des Kinofilms gegenüber geschuldet ist. Wir werden es nie wirklich wissen.
Trotzdem: Die Geschichte über die Geschichte der Geschichte funktioniert. Wenn am Ende die gefundenen Originalaufnahmen der Brainstorming-Sitzungen beim Abspann zu hören sind und man die resolute P.L. Travers im feinen britischen Akzent sprechen hört, bemerkt man, dass den Machern tatsächlich etwas daran lag, der Autorin und beiden Mary Poppins –der von Disney wie der von Travers- ein Denkmal zu setzen. Wenn vielleicht auch keine fein säuberliche Aufarbeitung, so ist Saving Mr. Banks auf alle Fälle ein großes „Dankeschön“ und ein kleines „Entschuldigung“ gegenüber einer Künstlerin, die sich bis zum Ende von einem Konzern um ihre wichtigste Freundin beraubt sah. Es gibt genug Großkonzerne, die das auf diese Art nicht hinbekommen würden.
Ein durch und durch schönes Werk für alle Kreativschaffenden, Autoren, Filmemacher und ein Empathie-Lehrfilm für Rechteverwerter und Medienanwälte.
Mary Poppins und Bert (auf dem Pferd im Disneyland, auf dem Walt an die vergessene Kindheit von P.L. Travers appeliert haben soll). [Foto cc-by-sa 3.0 Disney-Grandpa]
Schon als Kind habe ich bei Mary Poppins immer eine latente, melancholische Note durchgespürt. Bis heute konnte ich nicht fassen, was genau mich an dem Film so traurig gemacht hat. Saving Mr. Banks erklärt es und beweist ganz nebenbei, wie sehr kreative Schaffenskraft eines Autors ihre Zeit und ihre Transformationen überdauern kann, selbst wenn sie für den Schöpfer wie ein Verlust vorkommen.
Disney hat mit dem einfachen, aber feinfühligen Werk einem meiner Lieblings-Kinderfilme damit seine Magie genommen. Er wird für mich nie mehr so sein wie früher. Jeder kann das verstehen, wie er will – ich verstehe es als eine ganz große Geste an die Autorin. Als ein: „Wir haben verstanden, um was es dir geht. Wir ändern jetzt die Botschaft unseres Films. Wir geben dir ein bischen was zurück.“ Und das wiederum ist etwas, das Walt Disney bei der Veröffentlichung auf alle Fälle zu verhindern versuchte. Das Studio stellt sich erstmalig gegen seinen Schöpfer. Ich honoriere das.
Es ist eine Schande, dass der Film in Deutschland nicht so richtig von der Rampe kommt. Viele Kinos nehmen ihn nach der ersten Woche schon wieder aus dem Programm oder verfrachten ihn ins Nachmittagskino, wo er eigentlich nichts zu suchen hat. Denn auch wenn Saving Mr. Banks an der Oberfläche eine reine, melancholische Biographie ist, und so sperrig-mediale Themen wie Rechteverhandlungen, Kreativdirektion, Charakterentwicklung oder Drehbuchschreiben behandelt, ist es darunter einfach nur eine wundervolle Hommage an die Macht der Schöpfung und der Erzählung – mit all ihrer Magie und Missverständnissen.
Hallo Basti,
ich habe den Film „Saving Mr. Banks“ heute gesehen und war bzw. bin ziemlich berührt davon. Sicherlich habe ich als Kind auch den Film „Mary Poppins“ gesehen oder das Buch gelesen, aber daran erinnere ich mich nicht mehr. Während des Films war ich sehr irritiert durch die Aussage von Mrs Travers, die Mr. Disney sinngemäß fragte, ob er wirklich glaube, dass Mary Poppins gekommen sei, um die Kinder zu retten. Das hatte wohl so ziemlich jeder geglaubt. Mich hat der Film, wie schon erwähnt, sehr berührt – auch das Zitat mit dem hier die Rezension eingeleitet wird. Eine vorzüglich geschriebene Rezension, die mich dazu verleitet hätte den Film zu schauen, wenn ich das nicht schon getan hätte.
Schade, dass hier nicht mehr lobende Kommentare stehen… ich bin jedenfalls von der einfühlsamen Schreibweise begeistert.
Liebe Grüße
R.
Jan.2018
Vielen Dank für die netten Worte! 🙂 Das freut mich wirklich ganz besonders!