Ich bin immer wieder erstaunt, dass das Zeitreise-Thema immer noch Ideen hergibt, die mich begeistern.
Die Anime-Serie Steins;Gate basiert eigentlich auf einem japanischen Adventure-Game und handelt von einem verrückten Wissenschaftler, der aus Versehen aus einer falsch gepolten Mikrowelle eine Zeitmaschine bastelt. So durchgeknallt die Idee klingt, so slapstickartig sind auch die ersten Episoden der Serie, die mich eine zeitlang nur mäßig unterhalten haben. Das Team rund um den „Mad Scientist“ braucht gefühlte Ewigkeiten, bis die ersten wirklichen Zeitreisen überhaupt regelmäßigen Einzug in den Episodenverlauf halten.
Zunächst können die Protagonisten nur Textnachrichten mittels an der Mikrowelle befestigtem Mobiltelefon in die Vergangenheit senden. Im späteren Verlauf gelingt es dann auch, Gedanken in ein vergangenes „Ich“ zu transportieren, was bei der Beeinflussung von Entscheidungen und beim Lösen zahlreicher Missionen hilfreich ist. Ganz generell handelt aber Steins;Gate hier ganz bewusst in einem Korsett und verzichtet auf eine wirkliche Zeitmaschine erst mal komplett. Statt dessen wird das komplette Zeitreisen-Feuerwerk innerhalb dieser Grenzen abgeschossen.
Wirklich spannend ist dann nämlich der eigentliche Umgang mit dem Zeitparadoxon und dem „Schmetterlingseffekt“ an sich. Wo andere Filme bei den Auswirkungen von kleinsten Veränderungen in der Vergangenheit gerne mit der vollen denkbaren Bandbreite auf den Zuschauer eindreschen (Stichwort: „Butterfly Effect“), geht Steins;Gate genau den anderen Weg.
[Vorsicht: Spoilers Ahead!]
Hier teilen sich Zeitlinien nicht sofort durch Veränderungen auf. Vielmehr lebt jede Eventualität für sich schon in einer eigenen Zeitlinie. Eine Zeitreise ermöglicht insofern nur den „Sprung“ zwischen verschiedenen Linien. Die Menschen, die in der jeweiligen Zeitlinie leben, wissen nichts voneinander. Wird ein Zeitsprung durchgeführt, vergessen sie die Vergangenheit ihrer Linie und nehmen das Wissen der neuen Linie an. Die einzige Ausnahme: Unser Wissenschaftler Rintarō Okabe. Der hat die seltene Gabe, auch sein Wissen über die Zeitlinie hinweg zu retten und mehrere Zeitlinien parallel zu „erinnern“. Darauf baut fortlaufend die ganze Handlung der Serie auf.
Alle Linien, die in einer Richtung verlaufen, ergeben einen Zeitstrang, der in eine Richtung zeigt. Verändert man ein Ereignis in der Vergangenheit, verändert es zwar Details und wechselt damit die Linie, der komplette Strang verläuft aber immer noch weiter in dieselbe Richtung: Alle Ereignisse pendeln sich wieder ein, Menschen leben und sterben weiter ganz genauso wie in einer anderen Zeitlinie des Stranges – mit nur minimalen Nuancen. Der Anime spricht von der Attraktor-Feld-Konvergenz. Der Schmetterlingseffekt hat also eben genau keine riesigen Auswirkungen auf die Zukunft. Egal wie sehr sich unser Held auch bemüht, er kann sie nicht wirklich ändern. Und genau da liegt dann auch das Problem.
Denn um das Leben von Personen zu retten, müssen weitreichendere Veränderungen in der Vergangenheit getätigt werden. Hierfür muss die Attraktor-Feld-Konvergenz größer 1 werden. Ist das erreicht, springt der Zeitreisende (respektive die zeitreisende Botschaft) nicht innerhalb einer Linie sondern gleich komplett von Strang zu Strang. In der Serie werden diese zunächst alpha- und beta-Weltenlinie genannt. Mittels eines Attraktor-Indikator-Gerätes lässt sich feststellen, in welcher Linie des Stranges man sich befindet und austesten, wieviel, und (viel problematischer!) was noch verändert werden muss, um den Wert 1 und damit eine ganz neue Linie zu erreichen.
Haben viele Zeitreisefilme den Zuschauer in letzter Zeit nicht wirklich ernst genommen, wird Steins;Gate damit erfreulich komplex. Im späteren Serienverlauf springt Okabe wie wild zwischen verschiedenen Linien umher und wenn man alle Vorgänge genau begreifen will, ist hohe Aufmerksamkeit gefordert, zumal erklärende Details manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde im Hintergrund zu sehen sind. Ab der zweiten Hälfte spielt der Anime dann sein volles Potential aus. Die Regeln sind bis dahin vollständig erklärt und nun wendet Autor Naotaka Hayashi und sein Team das volle Spektrum der Zeitreisen auf seine gebautes Universum an.
Der Anime, der bis dahin noch recht trivial und naiv daherkam, bekommt plötzlich mehr und mehr philosophische Tiefe, die sich in ein fulminantes Finale zuspitzt. Begleitet wird diese Entwicklung von Story, Charakteren und Aussage dabei auch von so Feinheiten wie die Änderung von Titel- und Abspann-Soundtrack – eine gängige Anime-Praxis, die mir zuletzt bei Shiki positiv aufgefallen ist. Auch arbeitet Hayashi mit allerlei Wendungen, Überraschungen und Tricks – nicht nur auf der reinen narrativen Seite. Da wird auch schon mal eine entscheidende Wendung weit nach dem Abspann unerwartet nachgereicht, zahlreiche Anspielungen auf reale Institute und Firmen gemacht (von CERN bis Dr. Pepper) oder Mysterien der ersten Episode wirklich erst ganz zum Schluß aufgelöst. Und selbst vor vermeintlichen Tabuthemen wie bespielsweise einer Geschlechtsumwandlung macht Steins;Gate keinen Halt.
credit: Jason9811
Am meisten begeistert hat mich aber, dass die Macher am Ende das komplette Zeitreise-Setting als eine wundervolle Parabel auf das Leben, Freundschaft, Schicksal und Liebe etablieren, ohne dabei abgedroschen oder zu kitschig zu wirken. Tatsächlich traut man der Serie im Mittelteil eine solche Entwicklung gar nicht mehr wirklich zu, erst recht nicht bei einem Seinen-Anime. Man könnte fast glauben, man wollte die Zuschauer mit Banalitäten zunächst absichtlich in die Irre führen.
Egal ob nun gewollt oder gestreckt – die Serie ist gute Unterhaltung und im letzten Drittel geradezu fulminant. Charaktere, die ich kurzfristig wirklich nur für reine Slapstick-Clowns hielt, sind mir am Ende stark ans Herz gewachsen und manchen eine sonst so häufig schmerzlich vermisste Charakterentwicklung durch. Eine Anime für die ganze Familie und den Zeitreise-Freak im speziellen. Ich bin jetzt schon auf die angekündigte Filmadaption gespannt, auch wenn für mich eigentlich mit den letzten Worten der 24. Episode alles gesagt wäre…
Schönes Review, thx! Ich hab damals leider nur die ersten paar Episoden gesehen und es dann fallengelassen, aber nach deiner Beschreibung könnte sich das doch lohnen 🙂
Wollte nach Episode 5 auch schon wieder aufhören. Ab Episode 12 wurd’s dann langsam besser und der Schluss ist wirklich, wirklich gut… Aber vollständig verstehen kann ich den Hype als beste Anime-Serie aller Zeiten trotzdem nicht. 😉